Zum Inhalte springen

Aus: Charlotte McConaghy: Zugvögel

(S. Fischer 2020) S. 11-14

 

Die Tiere sterben. Bald sind wir hier ganz allein.

            Damals hat mein Mann eine Kolonie Sturmschwalben entdeckt, an der felsigen Küste des unbezähmbaren Atlantiks. In der Nacht, als er mich dorthin mitnahm, wusste ich noch nicht, dass sie zu den letzten ihrer Art gehörten. Ich wusste nur, wie ungestüm sie in ihrer nächtlichen Höhle waren, wie verwegen sie über das mondhelle Wasser schossen. Wir blieben eine Zeitlang bei ihnen, und in diesen wenigen Stunden im Dunkel konnten wir uns einreden, wir wären wie sie, genauso wild und frei.

            Damals, als die Tiere verschwanden, wirklich und wahrhaftig verschwanden, nicht nur als Warnung vor einer düsteren Zukunft, sondern jetzt, jetzt und hier, im Zuge eines Massensterbens, das wir sehen und fühlen konnten, beschloss ich, einem Vogel übers Meer zu folgen. Vielleicht hoffte ich ja, er würde mich dorthin führen, wohin sie alle geflüchtet waren, die anderen seiner Art, all die Lebewesen, die wir getötet zu haben glaubten. Vielleicht dachte ich auch, ich könnte herausfinden, welch grausamer Trieb mich dazu zwang, alles zu verlassen, Menschen, Orte, immerzu. Oder ich hoffte einfach nur, die letzte Reise dieses Vogels würde mir einen Ort zeigen, wo ich hingehörte.

            Damals waren es Vögel, die meinem ungestümeren Ich auf die Welt halfen.

 

GRÖNLAND, ZUR NISTZEIT

 

Ein Glück, dass ich gerade hinsehe, als es passiert. Ihr Flügel kappt den hauchdünnen Draht, und der Deckel des Korbs schließt sich sanft über ihr.

            Ich setze mich aufrechter hin.

            Erst reagiert sie gar nicht. Und weiß doch irgendwie, dass sie nicht mehr frei ist. Die Welt um sie her hat sich ein klein wenig verändert oder auch sehr stark.

            Ich nähere mich langsam, will sie nicht verschrecken. Der Wind brüllt, beißt mir in Wangen und Nase. Überall auf den vereisten Felsen sitzen ihre Artgenossen, sie kreisen in der Luft, weichen mir aber eilig aus. Meine Stiefel knirschen, und ich sehe, wie sie die Federn schüttelt, ein erstes zögerliches Flattern, der Moment der Frage: Soll ich versuchen zu entkommen? Das Nest, das sie mit ihrem Gefährten gebaut hat, wirkt primitiv, ein paar Grashalme und Zweige, in eine Felsspalte gestopft. Sie braucht es nicht mehr – ihre Jungen tauchen bereits selbst nach Futter –, trotzdem kehrt sie noch zurück, wie alle Mütter, kann einfach nicht loslassen. Ich halte den Atem an, strecke die Hand vor, um den Korb anzuheben. Sie flattert nur einmal, ein plötzliches Aufwallen von Widerstand, ehe sich meine kalte Hand um ihren Körper schließt und die Bewegung ihrer Flügel unterbindet.

            Jetzt muss ich schnell sein. Aber ich habe geübt, und so bin ich es auch, rasch schlingen meine Finger den Ring um ihr Bein, schieben ihn über das Gelenk hinauf bis unter das Gefieder. Sie stößt einen Laut aus, den ich nur zu gut kenne, einen Laut, wie ich ihn fast jede Nacht im Traum von mir gebe.

            „Tut mir leid, wir sind gleich fertig, gleich fertig.“

            Ich zittere, mache aber weiter, es ist sowieso zu spät, du hast sie ja schon angefasst, sie gebrandmarkt, ihr dein Menschen-Ich aufgezwungen. Wie abscheulich!

            Der Plastikring schließt sich fest um ihr Bein, hält den Peilsender am Platz. Er signalisiert mir mit einem Blinken, dass er funktioniert. Und gerade als ich sie wieder loslassen will, wird sie plötzlich ganz still, so dass ich ihren Herzschlag in meiner Hand spüre.

            Es lässt mich innehalten, dieses Klopfen. So flink, so flüchtig.

            Ihr Schnabel ist rot, als hätte sie ihn in Blut getunkt. Für mich gibt ihr das eine Stärke. Ich setze sie in ihr Nest zurück und entferne mich, nehme den Käfig mit. Ich will, dass sie hinausplatzt in die Freiheit, ich will den Zorn in ihren Schwingen sehen, und da ist sie schon, die reinste Pracht, als sie sich erhebt. Die Beine rot, passend zum Schnabel. Eine seidig schwarze Haube. Ein Schwanz wie zwei Klingen und dazu diese Flügel, ihre scharfen Kanten, die Eleganz.

            Ich sehe zu, wie sie kreist, wie sie versucht, den neuen Teil von sich zu begreifen. Der Peilsender behindert sie nicht – er ist kaum größer als der Nagel meines kleinen Fingers und wiegt praktisch nichts –, aber sie lehnt ihn trotzdem ab. Plötzlich stürzt sie mit schrillem Kreischen auf mich los. Ich grinse vor Freude und ducke mich, um mein Gesicht zu schützen, aber sie wiederholt den Angriff nicht. Sie kehrt in ihr Nest zurück und macht sich dort breit, als gäbe es immer noch ein Ei zu hüten. Die letzten fünf Minuten haben für sie nie stattgefunden.

            Seit sechs Tagen bin ich allein hier. Gestern Nacht wurde mein Zelt ins Meer geweht, nachdem Wind und Regen es mir weggerissen hatten. Mehr als ein dutzend Mal haben mir die Vögel, die als die wachsamsten am Himmel gelten, in Kopf und Hände gehackt. Aber meine Mühen haben mir drei beringte Küstenseeschwalben eingebracht. Und das Gefühl von Salz in den Adern.

            Oben auf der Anhöhe bleibe ich stehen, um noch einmal zurückzuschauen, und für einen Moment legt sich der Wind. Weit und überwältigend erstreckt sich das Eis, umrissen vom schwarz-weißen Meer und einem fernen, grauen Horizont. Selbst jetzt, mitten im Sommer, treiben riesige kobaltblaue Eisschollen träge vorbei. Und Dutzende Küstenseeschwalben sprenkeln das Weiß von Himmel und Erde. Die letzten, womöglich die letzten auf der ganzen Welt. Wenn ich fähig wäre, irgendwo zu bleiben, dann hier. Aber die Vögel werden nicht bleiben – und ich auch nicht.