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Aus: Suketu Mehta: Was erinnert wird

(Steidl 2017) S. 5-9

 

Als Mahesh am Flughafen JFK der Maschine aus Indien entstieg, bestand seine erste Erfahrung mit der neuen Welt in einem heftigen elektrischen Schlag, den ihm der Teppichboden versetzte. So heftig war dieser Schlag, dass Mahesh einen Moment lang regungslos nachschwang, um dann, sirrend vor Energie, New York zu stürmen. New York, verdammt! Schnelle Autos! Wrumm!

            Er raste durch die Einreisekontrolle, die Gepäckausgabe und den Zoll und sprang in ein Taxi, das ihn mit rasender Geschwindigkeit zu seiner Universität fuhr. Maheshs weitere Laufbahn, an der Uni wie im Berufsleben, zeichnete sich vor allem durch diese Energie aus: Er tat alles ein wenig schneller als andere. Leider hatte die elektrische Ladung jedoch auch einen ebenso kleinen wie entscheidenden Teil seiner Erinnerung ausgelöscht: den Namen seiner Mutter.

            Das wäre an und für sich nicht weiter dramatisch gewesen, denn wenn er von seiner Mutter sprach oder an sie dachte, nannte er sie immer „Mummy“; verstörend war nur, dass er, seit er den Namen seiner Mutter vergessen hatte, nach und nach noch mehr über seine Familie vergaß: den Beruf seines Vaters zum Beispiel, den Wohnort seiner Großeltern, die korrekte Bezeichnung für seinen Onkel mütterlicherseits, seine Kaste.

            Doch während die Jahre vergingen und Mahesh immer mehr vergaß, sorgte er sich immer weniger deshalb – schließlich hatte er sich bestens in die amerikanische Gesellschaft eingefügt, er lebte in einem Teil des Landes, wo es nicht allzu viele Inder gab, und niemand stellte ihm je mehr als ein paar flüchtige Fragen zu seiner Herkunft, etwa: „Wo lebt denn Ihre Familie?“ – „In Indien.“ – „Sind Sie Hindu oder Muslim?“ – „Hindu.“

            Mit der Zeit war das alles, was noch in Maheshs Erinnerung zurückblieb: dass seine Familie in Indien lebte, und dass er Hindu war. Was trieben seine Verwandten? Lebten sie noch alle? Waren sie nach Amerika gekommen und hatten versucht, Kontakt zu ihm aufzunehmen? Schrieben sie ihm Briefe an seine früheren Adressen, die dann zurückgingen? Waren sie wütend auf ihn, hielten sie ihn für tot, hatten womöglich auch sie seinen Namen vergessen? Mahesh kannte die Antworten nicht, weil er sich nicht einmal die Fragen stellte.

            Und von den Dingen, die er bei seiner Ankunft mitgebracht hatte, war ihm nur eines geblieben, das er in seiner Jackentasche gefunden hatte und dessen Zweck und Bedeutung er sich nicht erklären konnte: eine Haarnadel, die schlichte schwarze Haarnadel einer Frau.

 

Kurz nach seinem dreißigsten Geburtstag stellte Mahesh fest, dass er Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika werden musste. Das war nötig, weil er in seiner Firma befördert werden sollte. Es handelte sich um eine große Beförderung. Doch um die Stelle, die auch Fragen der nationalen Sicherheit berührte, antreten zu können, musste er amerikanischer Staatsbürger sein.

            Auf dem Antragsformular wurde er unmissverständlich dazu aufgefordert, den Namen seiner Mutter anzugeben. Er schrieb den Namen seines Vaters hin (denn der entsprach seinem Mittelnamen und stand auf seiner Green Card), doch so sehr er sich auch bemühte, der Name seiner Mutter fiel ihm einfach nicht ein. Dabei hing noch so viel mehr davon ab, dass er sich an den Namen seiner Mutter erinnerte – wenn er ihn wusste, würde er gewiss auch in der Lage sein, etliche andere Einzelheiten auf dem Formular anzugeben, seinen Geburtsort etwa und seine einstigen Anschriften.

            Noch nie war ihm ein Dokument begegnet, das ihn so detailliert nach seiner Vergangenheit befragt hätte; noch nie hatte sich dieses Land für seine Herkunft interessiert, und es war ihm äußerst lästig. Um voranzukommen, musste er zunächst herausfinden, woher er gekommen war.

 

Immerhin erinnerte Mahesh sich noch daran, wo genau er den Namen seiner Mutter vergessen hatte: am Flughafen JFK. Er nahm sich vor, zum Flughafen zurückzukehren und an dem Ort, wo ihm der Name seiner Mutter abhanden gekommen war, ein wenig umherzulaufen. Vielleicht konnte er ihn dort ja wiederfinden.

            Eines Tages stand Mahesh also sehr früh auf und fuhr zum Flughafen. Zum Ankunftsterminal für die Flüge aus dem Ausland. Zum frühen Air-India-Flug, der zur Ferienzeit nur der „Dada-Dadi-Bomber“ genannt wurde. Darin eine gewaltige Armee von Großeltern, die sich auf den Weg gemacht hatten, um ihre Nachkommen an die zurückgelassenen Werte zu erinnern: „Nicht dies, nicht das.“

            Durch die Glasscheibe über der Zollabfertigungshalle konnte Mahesh beobachten, wie die alten Herrschaften den amerikanischen Zollbeamten den sonderbaren Inhalt ihrer Koffer erklärten. Saris und Kurtas zogen sie hervor, warme Winterkleidung, in Kaschmir gefertigt, flaschenweise duftendes Haaröl. Vor allem aber – denn was hat ein armes Land dem Westen sonst schon zu bieten? – waren die Koffer Vorratskammern, Lagerhallen für stark riechende Lebensmittel.

            Gewürze: Asant, Kurkuma, Senfsamen, runzelige schwarze Schoten, für die keine europäische Sprache einen Namen hat. Linsenfladen, Sagokuchen. Selbstgemachtes Auberginen-Pickle. Punjabi-Chai. Betelnüsse und Rosenwasser. Und, unvermeidlich in der heißen Jahreszeit, Mangos. Mahesh beobachtete, wie die Zollbeamten, häufig mit Hilfe ihrer Hunde, die Berge von Mangos bereits vorausahnten. „Es tut mir leid, Ma’am, die dürfen Sie nicht einführen.“ „Aber sie sind doch für meine Enkel!“

            So viel Staunen, so viel Schmerz in den Mienen der alten Leutchen! Das waren doch die besten Alphonso-Mangos, die sie hatten finden können, zweitausend Rupien das Kilo, noch nie zuvor im Leben hatten sie Mangos für zweitausend Rupien das Kilo gekauft! Manche probierten das Altbewährte. „Nehmen Sie die Hälfte, Sir. Für Ihre Kinder“, trugen sie den Zollbeamten an. Nein – Mahesh schüttelte den Kopf – war ihnen denn nicht bewusst, dass sie jetzt in Amerika waren?

 

Mahesh lief durch das Gebäude, aber der Name seiner Mutter fiel ihm nicht ein. Als er wieder auf die Flughafenausfahrt zuhielt, verärgert über die ganze Zeit, die er für diese Fahrt verschwendet hatte, führte ein kurzfristiges und bis dahin beispielloses Aussetzen seiner Effizienz dazu, dass er die Beschilderung missdeutete und auf die Taxispur vor dem Ankunftsterminal geriet. Mahesh verwünschte sich innerlich und kam zu dem Schluss, dieses Versagen lasse sich direkt darauf zurückführen, dass er zu vielen verflixten Indern auf einem Haufen ausgesetzt gewesen war.

            Jetzt aber fand er sich auf der Taxispur wieder und musste feststellen, dass sein Wagen von einer kompletten indischen Familie umringt war. Ohne auf seine Proteste zu achten, rissen sie die Türen auf und strömten herein. Einer hatte den Kofferraum geöffnet und belud ihn mit schweren Gegenständen. Mahesh hörte den Aufprall der Koffer, spürte, wie sein Wagen unter dem Gewicht in die Knie ging. Das ganze Auto war voller Inder. Er fühlte sich, als würde er von Terroristen gekidnappt.

            „Jackson Heights“, sagte der Mann, der sich neben ihn gesetzt hatte und gerade die Tür zuzog.

            „Ich bin kein Taxi“, sagte Mahesh.

            „Hören Sie, wie viel wollen Sie? Meine alten Eltern sitzen schon mit ihren Koffern hier im Wagen. Wo sollen sie denn sonst hin? Aber ...“ Der Mann musterte Mahesh eindringlich. „ ... Sie sind ja selber Desi! Aus Gujarat, stimmt’s? Das könnten Ihre Eltern sein! Seit einer halben Stunde warten wir schon hier im Regen. Wie viel?“

            Mahesh war geschockt, dass dieser Mann ihn so leicht durchschaut hatte. Er saß am Steuer, brachte kein Wort heraus. Die Familie machte keine Anstalten auszusteigen. Mahesh wollte kein Aufsehen erregen. Vielleicht war dieser Ort ja in der Nähe. Dann konnte er sie einfach absetzen und weiterfahren. Er legte den Gang ein. „Ich weiß nicht, wo das ist ... dieses ...“, sagte er zu dem Mann, der neben ihm saß.

            „Jackson Heights“, sagte der Mann, doch mit seinem Akzent klang es wie „Dschaikisan Heights“. Er beschrieb Mahesh den Weg.