Aus: Zadie Smith, Sinneswechsel: Gelegenheitsessays
(Kiepenheuer & Witsch 2015) S. 361-363.
Ein ganz normaler Held
Zum sechzigsten Jahrestag der Beendigung des Zweiten Weltkriegs forderte die BBC ihre Zuschauer auf, ihre ganz persönlichen Kriegsgeschichten einzureichen. Diese sollten dann als historische Quellen online gestellt werden. Ich half meinem Vater dabei, seinen Bericht abzufassen, und verarbeitete das gesammelte Material anschließend zu einem Zeitungsartikel. Das Folgende ist eine überarbeitete Fassung davon.
Ich wusste immer schon, dass mein Vater „in der Normandie an Land gestürmt“ war. Sonst kannte ich keinen Vater, der das getan hätte – die Aufgabe hatte man wohlweislich den Großvätern überlassen. Mehr wusste ich nicht. Als Kind erfuhr ich häppchenweise von diesem mottenstichigen Krieg, auf den üblichen Wegen, aber so gut wie nie durch meinen Vater. Er erzählte davon nie wie von einer persönlichen Realität, und wenn ich ehrlich bin, kam mir das Ganze auch gar nicht real vor, eher wie eine der vielen fiktiven Geschichten, die das Gewebe meiner Kindheit durchzogen: Jane Eyre wurde ins Rote Zimmer gesperrt, Lucy Pevensie begegnete Mr Tumnus, und Harvey Smith war in der Normandie an Land gestürmt. Später, als ich um die zwanzig war, entfuhren ihm manchmal kleinere Fakten, meist über das Jahr, das er in Deutschland verbracht hatte, um beim Wiederaufbau zu helfen. Aber die Normandie blieb für mich ebenso fiktiv wie Narnia. „Gestürmt“ – allein das ergab ja schon keinen Sinn. Nicht bei einem so gefühlvollen Mann, körperlich sanft, in jeder Hinsicht Pazifist und gesegnet mit einem großen Herzen, das nicht nur überfloss, sondern geradezu überströmte. Für mich ist es völlig normal, meinen Vater außer sich und in Tränen vorzufinden, wenn ich gegen 18 Uhr 30 bei ihm anrufe, weil er gerade die Abendnachrichten gesehen hat.
Und dann, eines Sommers vor gar nicht langer Zeit, fand ich mich plötzlich als Erwachsene in der Normandie wieder, wo ich eine amerikanische Dichterin besuchte. Sie arbeitete an einem Gedichtzyklus über die sozialhistorischen Ablagerungen in der Landschaft und machte mit mir einen Tagesausflug an den Strand, wo wir badeten und in der Sonne saßen. Mitten beim Baden, und geradezu lächerlich spät, kam mir der Gedanke, dass das womöglich der Strand sein könnte, wo Harvey vor neunundfünfzig Jahren gelandet war. Ich erzählte der Dichterin davon, und sie fragte nach Einzelheiten, die ich zu meiner Schande alle nicht kannte. Es wurde ein historischer Tag. Sie zeigte mir Juno Beach, die Felsen, zwischen denen die Scharfschützen hockten, und das Labyrinth aus Hecken, das sich als so verhängnisvoll erwies. Und schließlich auch den amerikanischen Soldatenfriedhof. Tausende und Abertausende kompakter weißer Kreuze, dazwischen hier und da ein Davidstern, erstrecken sich in Reihen über den gepflegten Rasen. Sie nehmen gar kein Ende. Ich bin die Tochter meines Vaters: Ich brach in Tränen aus.
Erfüllt von journalistischem Furor kehrte ich nach Hause zurück und kaufte mir ein Diktiergerät. Das kam mir schon wie die halbe Miete vor. Ich war die tapfere Wahrheitssucherin, unterwegs, die quälenden Kriegserlebnisse eines Mannes aufzudecken, den das alles zu sehr schmerzte, um darüber zu reden. Doch dann stellte sich heraus, dass mein Vater der Idee gar nicht abgeneigt war. Sicher, er hatte nie groß darüber gesprochen – aber ich hatte ja auch nie richtig danach gefragt. Er machte uns Fisch zum Mittagessen in seinem Garten in Felixstowe und installierte sorgfältig das Mikrofon auf seinem kleinen Ständer.
„Lustig eigentlich, dass du gerade jetzt darauf kommst.“ Inwiefern lustig? „Na ja, ich habe selbst öfter dran gedacht, von wegen Jahrestag und so. Erst neulich habe ich mir noch überlegt: Ich hätte gern meine alten Dienstmedaillen wieder ... du weißt schon, für nächstes Jahr. Das wäre doch ganz schön.“ Aber warum hast du die denn nicht schon vor Jahren zurückgefordert? „Ach ... ich glaube, die berechnen Gebühren dafür“, erwiderte Harvey unschlüssig und konzentrierte sich wieder darauf, die gegrillte Seezunge zu filettieren.
In diesem Zwiespalt steckte mein Vater schon immer: Er verabscheute Krieg und hatte doch an einem teilgenommen, er war, wie er das ausdrückt, zukunftsorientiert und wollte doch gleichzeitig nicht ganz in Vergessenheit geraten. Mir scheint, er war selbst ganz überrascht von der späten Erkenntnis, dass er seine Medaillen wiederhaben wollte. Und ich war überrascht, dass ich sie sehen wollte. Ein freundlicher Veteran von gegenüber half uns, die nötigen Formulare auf den Weg zu bringen. Als die Medaillen kamen, fuhr ich nach Felixstowe, und wir saßen da und starrten sie an. Meteoriten auf dem Küchentisch.