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Aus: William Kent Krueger, Für eine kurze Zeit waren wir glücklich

(Piper 2019) S. 11-15

 

Mondlicht sammelte sich auf dem Boden des Zimmers. Draußen belebte das Zirpen der Grillen und anderen Nachtgetiers das Dunkel. Es war noch nicht einmal Juli und trotzdem schon brütend heiß. Vielleicht lag ich deswegen wach. 1961 besaßen nur die reichsten Bewohner von New Bremen eine Klimaanlage. Wir anderen bekämpften die Hitze, indem wir tagsüber die Vorhänge schlossen und die Sonne aussperrten, und nachts lockten Ventilatoren die Verheißung kühlerer Luft heran. In unserem Haus gab es nur zwei Ventilatoren, und keiner davon stand in dem Zimmer, das ich mir mit meinem Bruder teilte.

            Während ich mich auf der Bettdecke hin und her warf und versuchte, trotz der Hitze eine bequeme Lage zu finden, klingelte das Telefon. Vater sagte oft, dass Anrufe mitten in der Nacht nie etwas Gutes bedeuteten. Trotzdem nahm er immer ab. Ich vermutete, dass das auch zu seiner Arbeit gehörte, als eines von den vielen Dingen, die Mutter an seinem Beruf verabscheute. Das Telefon stand auf einem Tischchen draußen im Flur vor meinem Zimmer. Ich starrte zur Decke hinauf und lauschte dem blechernen Schrillen, bis das Licht im Flur anging.

            „Hallo?“

            Auf der anderen Zimmerseite regte sich Jake, ich hörte sein Bettgestell quietschen.

            Vater fragte: „Sonst irgendwelche Schäden?“ Dann sagte er, müde und höflich: „Ich bin in ein paar Minuten da. Danke, Cleve.“

            Er hatte noch nicht aufgelegt, da war ich schon aus dem Bett und stand im Flur. Seine Haare waren wild und zerzaust vom Schlaf, auf den Wangen lag bläulicher Bartschatten. Er sah müde und traurig aus. Er trug ein T-Shirt und gestreifte Boxershorts.

            „Geh wieder schlafen, Frank“, sagte er.

            „Kann ich nicht“, sagte ich. „Es ist zu heiß, ich war sowieso schon wach. Wer war das?“

            „Die Polizei.“

            „Ist jemand verletzt?“

            „Nein.“ Er schloss die Augen und rieb sich die Lider. „Es ist wegen Gus.“

            „Ist er betrunken?“

            Vater nickte gähnend.

            „Und im Gefängnis?“

            „Geh wieder ins Bett.“

            „Kann ich mitkommen?“

            „Du sollst wieder ins Bett gehen.“

            „Bitte. Ich störe bestimmt nicht. Und schlafen kann ich jetzt sowieso nicht mehr.“

            „Sprich leiser. Du weckst ja alle auf.“

            „Bitte, Dad.“

            Er hatte genügend Energie gehabt, aufzustehen und seine Pflicht zu erfüllen, aber um das Drängeln eines Dreizehnjährigen abzuwehren, der mitten in einer drückenden Sommernacht ein Abenteuer wittert, reichten seine Kräfte nicht. Also sagte er: „Zieh dich an.“

            Jake saß auf der Bettkante. Er trug bereits seine Shorts und streifte gerade die Socken über.

            „Wo willst du denn hin?“, fragte ich.

            „Ich fahre mit.“ Er kniete sich hin und angelte in der Schwärze unter seinem Bett nach seinen Turnschuhen.

            „Den Teufel tust du.“

            „Du hast Teufel gesagt“, kommentierte er, halb unter dem Bett hervor.

            „Und du bleibst hier, Howdy Doody.“

            Jake war zwei Jahre jünger als ich und zwei Köpfe kleiner. Wegen seiner roten Haare, der Sommersprossen und der Ohren, die abstanden wie die Henkel einer Zuckerdose, nannten die anderen ihn manchmal Howdy Doody, wie die Bauchrednerpuppe aus dem Fernsehen. Wenn ich sauer war, sagte auch ich Howdy Doody zu ihm.

            „Du kannst mir gar nichts b-b-b-befehlen“, sagte er.

            In der Öffentlichkeit stotterte Jake ständig, aber bei mir tat er es nur, wenn er wütend oder verängstigt war.

            „Nein“, gab ich zurück, „aber ich kann dich zu B-b-b-brei schlagen, wenn ich will.“

            Er hatte seine Turnschuhe gefunden und zog sie an.

            Die Nacht ist die Finsternis der Seele, und für mich lag ein lustvoller Reiz darin, zu einer Uhrzeit auf den Beinen zu sein, zu der die ganze Welt tief und fest schlief. Vater brach häufig zu diesen einsamen Missionen auf, aber ich hatte noch nie mitkommen dürfen. Das war etwas Besonderes, und ich wollte es nicht mit Jake teilen. Aber ich hatte schon genug kostbare Zeit verschwendet, also ließ ich den Streit ruhen und zog mich an.

            Mein Bruder wartete schon im Flur, als ich aus dem Zimmer kam. Ich hätte gern noch weiter mit ihm gestritten, aber da trat Vater aus dem Schlafzimmer und schloss die Tür hinter sich. Er musterte Jake, als läge ihm eine scharfe Bemerkung auf der Zunge. Aber dann seufzte er nur und bedeutete uns, vor ihm die Treppe hinunterzugehen.

            Draußen zirpten die Grillen wie wahnsinnig. Glühwürmchen hingen in der schwülen, schwarzen Nachtluft, blitzten auf und verloschen wie das träge Blinzeln träumender Augen. Als wir zur Garage gingen, glitten unsere Schatten vor uns her wie schwarze Boote auf einem silbrigen Meer aus Mondlicht.

            „Ich sitz vorn!“, rief Jake.

            „Ach, komm. Du hast hier doch eigentlich gar nichts verloren.“

            „Aber ich hab’s als Erster gesagt.“

            So lautete die Regel. Und in New Bremen, einer Stadt, die von Deutschen erbaut und bevölkert worden war, hielt man sich an die Regeln. Trotzdem beklagte ich mich weiter, bis Vater sich einschaltete. „Jake hat es als Erster gesagt“, entschied er. „Keine Diskussionen, Frank.“

            Wir stiegen in den Wagen, einen dosenerbsengrünen Packard Clipper, Baujahr 1955, den Mutter "Lizzie" getauft hatte. Sie gab jedem unserer Autos einen Namen. Den Studebaker nannte sie "Zelda". Der Pontiac Star Chief hieß "Klein-Lulu", nach der gleichnamigen Zeichentrickfigur. Es hatte noch weitere gegeben, aber ihr Liebling – der Liebling der ganzen Familie, bis auf Vater – war dieser Packard. Er war gewaltig, leistungsstark und elegant. Und er war ein Geschenk von Großvater und ein ständiger Streitpunkt zwischen meinen Eltern. Obwohl Vater es nie klar äußerte, hatte es, glaube ich, seinen Stolz verletzt, ein so kostspieliges Geschenk von einem Mann anzunehmen, den er nicht sonderlich mochte und dessen Werte er offen kritisierte. Schon damals war mir klar, dass Großvater Vater für einen Versager hielt und fand, Mutter habe etwas Besseres verdient. Jedes Abendessen, bei dem die beiden an einem Tisch saßen, war wie ein dräuendes Gewitter.

            Wir fuhren los und durchquerten die Ebene – so nannten wir das Viertel von New Bremen, in dem wir wohnten. Es erstreckte sich am Ufer des Minnesota River unterhalb des Hochlands, wo die wohlhabenden Familien residierten. Dort, hoch über uns, lebten durchaus auch Leute, die nicht reich waren, aber niemand mit Geld zog in die Ebene. Wir fuhren an Bobby Coles Haus vorbei. Wie alle anderen Häuser auf unserem Weg war es stockdunkel. Ich versuchte, mir seinen Tod zu vergegenwärtigen, der erst einen Tag zurücklag. Ich hatte noch nie erlebt, dass ein anderes Kind gestorben war, und es kam mir unnatürlich und schauerlich vor, als hätte ein Ungeheuer Bobby Cole geraubt.

            „Hat G-G-Gus Ärger?“, fragte Jake.

            „Ein bisschen“, antwortete Vater. „Aber es ist nicht so schlimm.“

            „Hat er nichts kaputtgemacht?“

            „Diesmal nicht. Er hat mit einem anderen Mann Streit angefangen.“

            „Das macht er oft.“

            „Aber nur, wenn er betrunken ist“, meldete ich mich vom Rücksitz. Normalerweise war Vater dafür zuständig, Rechtfertigungen für Gus zu finden, aber er blieb auffallend still.

            „Dann ist er eben oft betrunken“, sagte Jake.

            „Genug jetzt.“ Vater hob die Hand, und wir hielten den Mund.