Aus: Zadie Smith: Betrachtungen - Corona-Essays
(Kiepenheuer & Witsch 2020, E-Book only)
Eine Dame mit einem Hündchen
Das Lustige an Barbara ist, dass sie einen kleinen Hund hat, von dem sie eisern behauptet, er sei ein sehr braver Hund, während er in Wahrheit entweder bellt oder nach so ziemlich allen schnappt, die ihm zu nahekommen – bis auf Barbara. Neuzugezogene – Doktorandinnen, Forschungsassistenten – glauben manchmal, was Barbara sagt, und bücken sich, um ihn zu streicheln, aber wir sind alle längst im Bilde, wir reden ausschließlich mit Barbara, um Beck machen wir einen großen Bogen. Barbara lebt allein, sie dürfte auf die Siebzig zugehen, und sie raucht so, wie ich es früher getan habe: mit großem Genuss und sichtlicher Befriedigung. Vielleicht liegt es ja an den vielen Zigaretten, dass sie sehr schlank ist und häufig etwas gebrechlich wirkt. In den letzten zehn Jahren ist sie, hochgewachsen und elegant, etwas gebeugter geworden, und manchmal benutzt sie einen Rollator, aber nicht immer. Neuerdings neigt sie sich ein wenig nach rechts, wie eine Weide, und ihr schnurglattes Haar, das wippt wie bei einer jungen Frau – und mich irgendwie immer denken lässt, Barbara müsse früher Tänzerin gewesen sein –, neigt sich mit und sieht jetzt aus wie ständig über eine Schulter geworfen. Wie so viele Frauen im Süden Manhattans ist sie nicht auf traditionell weibliche Art gealtert, wird also keineswegs immer unsichtbarer und stiller, nicht weniger ostentativ selbstsicher, nicht weniger informiert darüber, was in der Brooklyn Academy of Music oder am Joyce Theater Premiere hatte oder welches übertrieben gehypte Musical gerade am Broadway abgesoffen ist ... Und wenn man sich mit besorgter Stimme erkundigt, was sie denn über die Feiertage mache – weil man sich gern als gute Nachbarin sehen und ihr vielleicht einen Kuchen vorbeibringen möchte oder, realistischer gedacht, ein mitfühlendes Seufzen plant, wenn sie „nichts“ antwortet –, erfährt man, dass sie gerade einen Wanderurlaub nur für sich in den Catskills gebucht hat oder sich mit ihrer radikalen Frauengruppe treffen wird, um über die Werke von Anaïs Nin zu diskutieren. Sie hat einen breiten New Yorker Akzent, den ich weder einem genauen Stadtviertel noch dem genauen Jahrzehnt zuordnen könnte, es bleibt also bei der Aussage, dass nur wenige Menschen in Manhattan noch mit so einem Akzent sprechen.
Früher hielt ich ihr Hündchen, so wie auch unser eigenes Hündchen, für unsterblich – irgendwann würde es der letzte verbliebene New Yorker sein –, aber dann starb es doch und wurde nahtlos von einem praktisch identischen Hund mit ähnlich fragwürdiger Einstellung ersetzt, Barbara behielt ihre gemächlichen Gänge mit Zigarette um den Block bei, und wir begegneten ihr weiterhin. Manchmal, wenn gerade etwas von mir in einer Zeitschrift erschienen war oder ein neues Buch in den Läden lag, rief sie mir schon aus zwei Metern Entfernung etwas entgegen, irgendein kleines, abwegiges Detail, das ihr aufgefallen war, aber immer ohne weiteren Kommentar, weder lobend noch anderweitig. Es kam vor, dass ich gerade meine Einkäufe von Morton Williams nach Hause schleppte und plötzlich zu hören bekam: „Myron liebt Disco-Musik! Ja, das habe ich gesehen. Das haben wir alle gelesen, meine Freundinnen und ich. Genießen Sie den schönen Tag? Nachher soll’s ja noch regnen, hieß es.“
Es gibt diesen Idealtypus der Großstadtbewohnerin, die offenbar keinerlei Selbstmitleid kennt, die ganz genau weiß, wie lange man mit anderen auf der Straße plaudert, die ein Gemeinschaftsgefühl erzeugt, ohne das Konzept allzu sentimental aufzuladen – oder auch nur das Wort „Gemeinschaft“ auszusprechen – und immer die Hinterlassenschaften ihres Hundes aufhebt, selbst wenn ihr das körperliche Schmerzen verursacht. Deren tägliches Frühstück aus einer Zigarette und einem Croissant in dem französischen Café an der Ecke besteht, obwohl Barbara inzwischen, ihres neuen Rollators wegen, auf der Bank vor dem Friseursalon isst und raucht, die eigentlich der Kundschaft des Salons vorbehalten ist. Aber niemand stört sich daran, es handelt sich schließlich um Barbara und Beck, die ihre Gewohnheiten brauchen und allen bekannt sind. Dort saß sie auch an jenem letzten Tag – ich kam mit meinem Hündchen vorbei, die letzte Gelegenheit für Maud, noch einmal Gassi zu gehen, bevor wir sie in den Mietwagen verfrachteten –, und ich sah, dass sie Anstalten machte, mir eine ihrer zwiespältigen Bemerkungen entgegenzurufen, vielleicht über das Wetter oder über ein Stück Prosa oder den neuesten Frevel des Oberhaupts dieses Landes, zu dem aus Barbaras Sicht ihre Stadt allenfalls in der Theorie gehört. Weil mir New York schon jetzt fehlte, freute ich mich regelrecht darauf. Aber dann zog sie nur scharf an ihrer Zigarette und sagte, mit so leiser Stimme, wie ich es noch nie bei ihr gehört hatte: „Es ist doch so, wir sind eine Gemeinschaft, wir passen aufeinander auf. Sie werden für mich da sein, ich werde für Sie da sein, wir werden alle füreinander da sein, das ganze Haus. Es gibt nichts, wovor wir uns fürchten müssen – wir werden das durchstehen, wir alle, zusammen.“
„Ja, das werden wir“, flüsterte ich, so tonlos, dass ich es kaum selbst hörte, und ging weiter, und dabei hielt ich zwei Meter Abstand und konnte nicht sagen, ob ich damit die neuen Regeln befolgte oder vermeiden wollte, dass Beck mich an einer empfindlichen Stelle biss.