Aus: William Finnegan: Barbarentage
(Suhrkamp Nova 2018) S.60-63
Und so kam es, dass ich an einem Sonntagmorgen im Frühling gemächlich durch die Lagune von Cliffs nach Hause paddelte, während meine Familie in der Star-of-the-Sea-Kirche in Waialae schwitzte. Die Ebbe hatte eingesetzt. Meine Finne schlug leicht gegen die größeren Felsen. Auf dem grünlichen, freiliegenden Riff gingen Chinesinnen, vielleicht waren es auch Filipinas, mit spitzen Strohhüten gebückt entlang und füllten ihre Eimer mit Aalen und Tintenfischen. Hier und da brachen Wellen, zu klein zum Surfen, an den äußeren Rändern des Riffs.
Ich hatte das Gefühl, zwischen zwei Welten dahinzugleiten. Dort war das Meer, praktisch endlos, das sich auf ewig bis zum Horizont erstreckte. An diesem Morgen war es friedlich, hielt mich weich und wohlig in seinem Griff. Doch ich war jetzt seinen Launen unterworfen. Diese Bindung schien mir grenzenlos, unwiderstehlich. Inzwischen stellte ich mir nicht mehr vor, die Wellen würden in einer himmlischen Werkstatt geformt. Ich dachte nüchterner. Ich wusste jetzt, dass sie ihren Ursprung in fernen Unwettern hatten, die sozusagen über den Wassern schwebten. Aber dafür, dass das Surfen mich so komplett in Anspruch nahm, gab es keine rationale Erklärung. Es fesselte mich einfach; ich fand einen endlosen Schatz der Schönheit und des Staunens darin. Jenseits dessen hätte ich nicht erklären können, warum ich es machte. Ich hatte die vage Ahnung, dass es wohl einen seelischen Hohlraum füllte – der vielleicht mit meiner Abkehr von der Kirche oder, was wahrscheinlicher ist, mit der langsamen Loslösung von meiner Familie zusammenhing –, und dass es vieles ersetzte, was ihm vorangegangen war. Ich war jetzt ein sonnenverbrannter Heide. Ich durfte an Mysterien teilhaben.
Die andere Welt lag an Land: alles, was nichts mit Surfen zu tun hatte. Bücher, Mädchen, die Schule, meine Familie, Freunde, die nicht surften. „Die Gesellschaft“, wie ich das neuerdings nannte, und die Forderungen an Mister Zuverlässig. Die Hände unterm Kinn verschränkt ließ ich mich treiben. Über dem Koko Head hing eine Wolke von der Farbe eines blauen Flecks. Von einem Mäuerchen am Ufer, wo eine hawaiianische Familie beim Picknick saß, plärrte ein Transistorradio herüber. Das sonnenwarme, seichte Wasser schmeckte seltsam nach gekochtem Gemüse. Es war ein gewaltiger, stiller, gleißender, banaler Augenblick. Ich versuchte, ihn mir in jeder Einzelheit einzuprägen. Mir kam nicht einmal der flüchtige Gedanke, dass ich eine Wahl hätte, was das Surfen anging. Der Zauber, der mich befallen hatte, würde mich führen, wohin er wollte.
Und so entstehen surfbare Wellen: Draußen auf dem Meer wühlt ein Unwetter die Wasseroberfläche auf und macht sie kabbelig – kleinere und später immer größere ungeordnete Wellen entstehen, die sich mit genügend Wind zu starkem Seegang zusammenfinden. Wir an den fernen Küsten warten wiederum auf die Energie, die von dem Unwetter ausgeht und in Gestalt von Wellenzügen – Wellengruppen, die sich immer weiter ordnen und sich gemeinsam fortbewegen – in ruhigere Gewässer ausstrahlt. Jede Welle lässt eine Säule aus kreiselnden Wasserteilchen entstehen, die sich größtenteils unter der Oberfläche befinden. Alle von einem Unwetter hervorgebrachten Wellenzüge ergeben zusammen das, was Surfer als „Swell“ bezeichnen. Ein Swell kann viele tausend Kilometer zurücklegen. Je stärker das Unwetter, desto weiter kommt auch der Swell voran. Auf seiner Reise ordnet er sich immer mehr: Der Abstand zwischen den einzelnen Wellen eines Pakets, die sogenannte Periode, vereinheitlicht sich. Bei einem Wellenzug mit langer Periode reichen die kreiselnden Wasserteilchen über dreihundert Meter tief unter die Meeresoberfläche. Ein solcher Zug übersteht problemlos auch Hindernisse an der Oberfläche, Kabbelung zum Beispiel oder kleine, seichtere Swells, die er auf seinem Weg kreuzt oder überholt.
Nähern sich die Wellen des Swells einer Küste, ertastet ihre Unterseite den Meeresgrund. Aus den Wellenzügen werden Sets – Wellengruppen, die größer sind und eine längere Periode haben als ihre vor Ort erzeugten Verwandten. Bei den einlaufenden Wellen erfolgt eine Refraktion (sie drehen sich ein), die von der Form des Untergrunds abhängt. Der sichtbare Teil der Welle wächst, ihre Bewegungsenergie wird weiter an die Oberfläche gedrückt. Auch der Widerstand des Meeresgrunds wächst, je seichter das Wasser wird, und verlangsamt die Welle. Der Wellenteil über der Oberfläche wird immer steiler. Schließlich wird er instabil und setzt dazu an, nach vorn zu kippen – zu brechen. Die Faustregel besagt, dass eine Welle bricht, wenn sie auf achtzig Prozent der Wassertiefe angewachsen ist – eine acht Fuß (ca. zweieinhalb Meter - Surfer messen Wellen meist in Fuß, selbst in Ländern, die das metrische System benutzen) hohe Welle bricht also bei einer Wassertiefe von etwa drei Metern. Aber wann und wie genau eine Welle bricht, darüber entscheiden viele Faktoren, darunter auch äußerst subtile wie der Wind, die Konturen des Meeresgrunds, der Winkel des Swells insgesamt oder die Strömung. Als Surfer hoffen wir vor allem darauf, dass sich die Welle gut erwischen lässt, der Takeoff also einfach ist, dass sie ein surfbares Face hat und nicht sofort zumacht (Close-Out), sondern allmählich und sukzessive bricht, entweder in die eine oder in die andere Richtung (links- bzw. rechtsbrechend), und uns damit ermöglicht, das Face in etwa parallel zur Küste eine Zeit lang abzureiten, an genau diesem Spot, in genau diesem Augenblick, kurz bevor sie in sich zusammenfällt.