Zum Inhalte springen

Aus: Zadie Smith, London NW

(Kiepenheuer & Witsch 2014) S. 92-96

 

- Tante Leah! Tante Leah! Mummy sagt LANGSAMER!

            Leah bleibt stehen, schaut zurück. Kein Mensch ist zu sehen, dann biegt Nat um die Ecke, mit einem theatralischen Seufzer. Der Buggy ist leer, sie hat Spike auf dem Arm, Naomi zerrt an ihrem T-Shirt. Gulliver, kurz davor, von den Liliputanern überwältigt zu werden.

            - Lee, bist du sicher, dass das stimmt? Sieht so gar nicht danach aus.

            - Am Ende dieser Straße. Auf der Karte macht sie einen Bogen und führt dann wieder zurück. Pauline hat schon gemeint, es ist schwer zu finden.

            - Ich seh nur das Amtsgericht und ... ein Kreisverkehr? Hierbleiben, Kinder, bei mir bleiben. Da kann man ja auch gleich auf dem Seitenstreifen der Autobahn spazieren gehen. Was für ein Albtraum. Kennedy Fried Chicken. Polish Bar and Pool. Euphoria-Massagen. Wie schön, wenn man so viel von der Umgebung sieht. Das kann unmöglich noch Willesden sein. Fühlt sich schon mindestens wie Neasden an.

            - Die Kirche macht es doch erst zu Willesden. Sie steht für die Gemeinde Willesden.

            - Okay, aber wo ist sie? Wie kommt Pauline hier überhaupt hin?

            - Mit dem Bus, nehme ich an. Keine Ahnung.

            - Was für ein Alptraum.

            Die Straße macht einen Bogen. Sie finden sich auf einem schmalen Streifen Asphalt wieder, an dessen Ende ein Poller steht, und halten die Kinder fest, während zu beiden Seiten Autos vorbeirasen. Rechts von ihnen ein zwangsvollstrecktes Einkaufszentrum und ein fehlgeplanter Büroblock, leer, jedes zweite Fenster eingeschlagen. Links ein grasbewachsenes Inselchen, das sich an die zweispurige Schnellstraße schmiegt. Als grüne Oase gedacht, wird es als Müllkippe missbraucht. Eine patschnasse Matratze. Ein umgekipptes Sofa mit zerschnittenen Polstern und scheußlichen Flecken. Ausgefallenere Gegenstände, die von eilig aufgegebenen Leben berichten: ein halbes Mofa, eine enthauptete Stehlampe, eine Autotür, ein Hutständer, so viele Linoleumrollen, dass sie für einen ganzen Badboden reichen würden.

            In einer Verkehrslücke flitzen sie wie ein einziges aufgescheuchtes Tier über die breite Straße und lassen sich dann los, keuchend, die Hände auf die Knie gestützt. Leah, die Anweisung hat, es achtundvierzig Stunden „ruhig angehen“ zu lassen, spürt leichten Schwindel. Sie dreht sich weg, hebt langsam den Kopf und entdeckt sie als Erste: altertümliche Zinnen und ein Kirchturm, die gerade so zwischen den Ästen einer gewaltigen Esche zu sehen sind. Nur zwanzig Meter weiter offenbart sich die Szenerie in ihrer ganzen Unwahrscheinlichkeit. Eine kleine Dorfkirche, eine mittelalterliche Dorfkirche, gestrandet auf diesem Viertelhektar inmitten eines Kreisverkehrs. Aus Zeit und Raum gefallen. Ein Kraftfeld heiterer Ruhe umgibt sie. Vor dem Ostfenster ein Kirschbaum. Ein niedriges Backsteinmäuerchen ringsherum markiert den alten Grenzverlauf, kaum abschreckender als ein Schutzwall aus Gänseblümchen. Die Türen der Familiengrüfte sind eingetreten. Viele Grabsteine bunt verziert. Leah, Nat und die Kinder passieren das Friedhofstor, pausieren unter dem Glockenturm. Das blaue Ziffernblatt blinkt in der Sonne. Es ist halb zwölf am Vormittag, in einem fernen Jahrhundert, einem fernen England. Nat wischt sich mit dem Windeltuch den Schweiß von der Stirn. Die Kinder, bis dahin laut und quengelig in der Hitze, werden still. Durch den schattigen Friedhof windet sich ein Weg, die viktorianischen Grabsteine weisen nur die jüngste Schicht von Toten aus. Natalie steuert den Sportwagen über den holprigen Untergrund.

            - Irre. Die habe ich noch nie gesehen. Dabei bin ich hier schon hundert Mal vorbeigefahren. Hast du noch das Wasser-Dings, Lee? Wahrscheinlich gefällt’s Pauline deswegen hier. Weil sie so alt ist. Weil man dem Alten noch trauen kann.

            Leah verschränkt die Arme eng vor der Brust und wird zu ihrer Mutter, setzt die Miene ihrer Mutter auf: die nach unten gezogenen Mundwinkel, die flatternden Lider, in ständiger Abwehr aller Stäubchen dieser Welt und ihres Bestrebens, Pauline in die Augen zu fliegen. Natalie, mitten im Schluck, prustet heftig los, bekleckert sich mit Wasser.

            - Also, diese neumodischen Kirchen sind ja wirklich nichts für mich. Darum reiße ich mich wirklich nicht. Den Alten kann man wenigstens noch trauen, das steht fest.

            - Hör auf, sonst ersticke ich noch. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und nicht mal gewusst, dass es diesen Ort gibt. All die Jahre mit Marcia in dieser Sardinenbüchse von Pfingstgemeinde, dabei hätten wir die ganze Zeit hier sein können! Hör mir doch zu, Keisha. Ich will doch nur, dass der Geist des Herrn uns alle erfüllt.

            Über ihre Mütter können sie sich lustig machen, doch den ernsten Zauber dieses Orts können sie nicht durchbrechen. Die Kinder tappen zögernd zwischen den Gräbern herum, wollen wissen, ob da unten in echt tote Menschen liegen. Leah beschleunigt, verlässt den Weg und stapft durch das hohe Gras, während Nat mit ihren Sprösslingen über den feinen Unterschied zwischen den kürzlich Verstorbenen und den längst Verstorbenen debattiert. Leah streckt die Arme nach beiden Seiten von sich weg. Mit den Fingern streift sie die Spitzen der größeren Grabsteine, eine verfallene Steinurne, ein bröckelndes Kreuz. Bald ist sie hinter der Kirche. Ringsum drängt die Vergangenheit, teils noch leserlich auf verwitterten, trübselig schief stehenden Steinen. Säuglingssterben und tödliche Wochenbetten. Krieg und Krankheit. Wuchtige Tafeln, bedeckt von Efeu, von Flechten, von gelben Schimmel- oder Moosflecken.

 

EMILY W... AUS DIESER GEMEINDE IN IHREM ...DREIßIGSTEN JAHR AUS DEM LEBEN GESCHIEDEN

IM JAHRE DES HERRN ACHTZEHNHUNDERTSIEBENUND...

SIE HINTERLÄSST SECHS KINDER UND IHREN GATTEN ALBERT,

DER IHR BALD INS ... NACHFOLGTE

 

 

MARION ... AUS DIESER GEMEIN...

VERSTORBEN AM 17. DEZEMBER 1878 MIT 2... JAHREN

DESGLEICHEN DORA, TOCHT... DER OBIGEN,

VERSTORBEN AM 11. DEZEMBER 1878

 

 

ACHTUNDVIERZIG STUNDEN LASS ES RUHIG ANGEHEN

IN DIESER SCHRECKLICHEN SONNE

LASS ES RUHIG ANGEHEN, LEAH HANWELL AUS DIESER GEMEINDE,

EINZIGE TOCHTER COLIN HANWELLS,

DESGLEICHEN AUS DIESER GEMEINDE.

FÜR DEN REST DES LEBENS LASS ES RUHIG ANGEHEN

 

            Leah lehnt sich an einen Stein, der so groß ist wie sie. Darauf drei Hochrelieffiguren, fast völlig unkenntlich. Sie schiebt die Finger in die moosigen Kerben. Eine Frau mit gerafften Röcken hält etwas an sich gedrückt, einen formlosen Klumpen, vielleicht ein Geschenk, und von beiden Seiten strecken zwei kleine Jungen in Kitteln die Arme nach ihr aus. Sie ist niemand. Die Zeit hat alle Einzelheiten weggenagt: kein Name kein Datum kein Gesicht keine Knie keine Füße keine Erklärung für das geheimnisvolle Geschenk ...

            - Lee, alles klar mit dir?

            - Heiß. Es ist so wahnsinnig heiß.