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Aus: Scarlett Thomas, Das Ende der Geschichten

(rororo 2011) S. 9-11

 

            Das Ende des Universums und wie man es überlebt – darüber las ich gerade, als ich eine SMS von meiner Freundin Libby bekam. Kannst du in einer Viertelstunde unten am Fluss sein?, schrieb sie. Riesenkatastrophe. Es war ein kalter Sonntag Anfang Februar, und ich hatte die meiste Zeit des Tages in unserem feuchten, baufälligen Cottage in Dartmouth im Bett verbracht. Oscar, der Literaturredakteur der Zeitung, für die ich schrieb, hatte mir Kelsey Newmans Buch Die Wissenschaft vom Ewigen Leben zum Rezensieren geschickt, samt einer Grußkarte mit dem Abgabetermin. Damals rezensierte ich grundsätzlich alles, weil ich das Geld brauchte. Und so schlecht war das auch gar nicht: Als Rezensentin populärwissenschaftlicher Sachbücher hatte ich mir einen gewissen Namen gemacht, und Oscar schickte mir immer nur die besten Werke. Christopher, mein Freund, arbeitete ehrenamtlich für verschiedene Kulturerbestätten, also musste ich für die Miete aufkommen. Ich lehnte daher nie einen Auftrag ab – so auch im Fall von Kelsey Newman, obwohl ich nicht die geringste Ahnung hatte, was ich über sein Buch und seine These vom Weiterleben über das Ende der Zeit hinaus sagen sollte.

            In mancher Hinsicht lebte ich ja selber schon über das Ende der Zeit hinaus: über Abgabetermine, Kreditlimits und jedes Ultimatum des Filialleiters meiner Bank. Meine Abgabetermine hielt ich nur ein, um Geld zu bekommen, aber ausgeben konnte ich es deshalb noch lange nicht. In jenem Winter war ich gezwungen, alle meine Honorarschecks in einer obskuren Wechselstube in Paignton einzulösen, wo keine weiteren Fragen gestellt wurden, und die Strom- und Gasrechnungen auf der Post in bar zu bezahlen. Aber was konnte man schon anderes erwarten? Ich war schließlich keine Erfolgsautorin, auch wenn ich immer noch vorhatte, eine zu werden. Jedes Mal, wenn wieder ein weißer Umschlag von der Bank eintrudelte, ging Christopher mit ihm nach oben und legte ihn zu den anderen Briefen, die sich auf meinem Schreibtisch stapelten. Ich machte keinen dieser Umschläge jemals auf. Weil das Guthaben auf meinem Handy fast aufgebraucht war, simste ich Libby nicht zurück, legte aber das Buch beiseite, stand auf und zog mir meine Turnschuhe an. Zwar hatte ich mir eigentlich geschworen, sonntagabends nie in Dartmouth unterwegs zu sein – komplexe Beweggründe hatten mich dazu veranlasst –; aber ich konnte meine Freundin ja nicht einfach hängenlassen.

            Der graue Nachmittag rollte sich in den Abend hinein wie eine verängstigte Kellerassel. Ich hatte noch fünfzig Seiten der Wissenschaft vom Ewigen Leben vor mir und sollte die Rezension am nächsten Tag abgeben. Später würde ich das Buch also noch zu Ende lesen und den Artikel dann rechtzeitig einreichen müssen, damit die Möglichkeit bestand, dass er in die nächste Sonntagsausgabe kam. Wenn er erst in der übernächsten Woche erschien, würde ich diesen Monat kein Geld mehr sehen. Unten auf dem Sofa saß Christopher und zersägte alte Gegenstände aus Holz, um aus den Teilen einen Werkzeugkasten zu basteln. Er konnte nicht draußen arbeiten, weil wir keinen Garten hatten, nur einen winzigen, von hohen Mauern umschlossenen Hinterhof, wo manchmal auf wundersame Weise – wie vom Himmel gefallen – Frösche und anderes kleineres Getier auftauchten. Als ich ins Wohnzimmer kam, sah ich gleich, dass alles voller Sägemehl war, sagte aber nichts dazu. Meine Gitarre lehnte neben dem Kamin an der Wand, und jedes Mal, wenn Christopher seine Säge vor- oder zurückbewegte, wanderte die Schwingung durch den Raum und ließ die dicke E-Saite erzittern. Dabei entstand ein Ton, so tief und traurig und eindringlich, dass man ihn kaum hören konnte. Christopher sägte sehr angestrengt: Tags zuvor war sein Bruder Josh zum Mittagessen bei uns gewesen, und das hatte er immer noch nicht verwunden. Josh fand es heilsam, über den Tod ihrer Mutter zu reden; Christopher jedoch nicht. Josh war froh, dass ihr Vater mit einer fünfundzwanzigjährigen Kellnerin zusammen war; Christopher fand das abscheulich. Wahrscheinlich wäre es meine Aufgabe gewesen, das Gespräch darüber zu beenden. Aber ich war in dem Moment zu sehr mit meinen eigenen Sorgen beschäftigt, weil ich mir das Buch, das ich rezensieren sollte, noch nicht mal angeschaut hatte und weil das Brot fast aufgegessen war und wir kein weiteres mehr im Haus hatten. Außerdem hätte ich auch gar nicht gewusst, wie ich dieses Gespräch beenden sollte.

            Manchmal, wenn ich nach unten ging, überlegte ich mir unterwegs, was ich sagen sollte, aber dann malte ich mir aus, wie Christopher darauf reagieren würde, und ließ es bleiben. Diesmal sagte ich: „Stell dir vor –“, und Christopher, der immer noch wie ein Besessener sägte, als hätte er den Kopf seines Bruders vor sich oder vielleicht auch den von Milly, fiel mir umgehend ins Wort: „Babe, du weißt doch, ich kann es nicht leiden, wenn du ein Gespräch so anfängst.“ Ich entschuldigte mich, aber als er mich bat, ein Stück Holz für ihn festzuhalten, erwiderte ich, ich müsse mit dem Hund raus.

            „Sie war seit Stunden nicht mehr Gassi“, sagte ich. „Und es wird bald dunkel.“

            Bess wälzte sich in der Diele auf ihrem Kauknochen herum.

            „Warst du nicht vorhin erst mit ihr spazieren?“, fragte Christopher.

            Ich zog meinen Anorak an, nahm meinen roten Wollschal und ging ohne ein weiteres Wort. Ich drehte mich nicht einmal mehr um, als ich hörte, wie sich der Inhalt von Christophers Nagelkiste auf den Boden ergoss, obwohl ich wusste, eigentlich hätte ich das tun sollen.