Aus: Pamela Moore, Cocktails
(Piper 2015) S. 212-215.
„Mir ist heute ungemein langweilig, Engel. Und leider besteht auch keine Hoffnung auf Abhilfe, denn ich halte Liebe am Vormittag für eine barbarische Sitte.“
Mit einem Mal fragte sich Courtney, was sie eigentlich hier zu suchen hatte, doch das Gefühl verflog rasch wieder. Sie trank einen Schluck Kaffee.
„Bist du heute niedergeschlagen, Courtney?“
„Nein, ich glaube nicht.“
„Komm, setz dich zu mir.“ Er stellte seine Tasse ab. Sie setzte sich neben ihn, und er nahm sie in die Arme. Sie lehnte sich an ihn, und sofort senkte sich Ruhe über sie. „Tony erzählt dir jetzt eine Geschichte“, sagte er.
„Oh nein“, protestierte Courtney. „Nicht noch so ein verdorbenes Märchen.“
„Nein“, sagte er. „Diese Geschichte handelt von einem Kind.“
Sie machte es sich in seinen Armen bequem.
„Es ist die Geschichte“, erzählte er mit seiner leisen, sanften Stimme, „eines kleinen Jungen, der seine Kindheit verlor. Der Junge wuchs in Reichtum und Langeweile auf, und sein Spielzimmer war ein kleines Stück Privatstrand an der Riviera, noch vor dem Krieg. Es war ein wunderschöner Strand, mit feinem weißen Sand und einem ruhigen Meer, und immer schien dort die Sonne. Am anderen Ende des Strands war eine Felswand mit ein paar Höhlen, sehr geheimnisvoll. Im Grunde die ideale Spielwiese. Dort spielten der kleine Junge und seine Kindheit miteinander, sie badeten und bauten aufwendige Sandburgen, und seine Eltern waren es ganz zufrieden, ihn ohne seine Kinderfrau dort spielen zu lassen, denn seine Kindheit leistete ihm ja Gesellschaft. Sie verstanden sich bestens miteinander. Und so luden die Eltern lauter charmante Menschen zu üppigen Mittagessen ein und machten sich nicht die geringsten Sorgen um ihren kleinen Sohn.“
„Und sonst war niemand am Strand?“, fragte Courtney. „Du meinst, er hat da den ganzen Tag allein gespielt?“
„Ich sagte doch“, wiederholte Anthony geduldig, „es war ein Privatstrand. Außerdem hatte er ja seine Kindheit als Spielgefährten. Unterbrich mich nicht ständig mit rein theoretischen Fragen.“
Courtney nickte betreten. Er strich ihr sanft das Haar aus der Stirn und fuhr mit seiner Geschichte fort.
„Er war überglücklich, der kleine Junge. Er hatte seine Kindheit wirklich schrecklich gern und tat keinen Schritt ohne sie. Eines Tages wollte er die Höhlen im Felsen erforschen. Er hatte den Privatstrand noch nie verlassen, das Erforschen war also sehr aufregend für ihn. In den Höhlen war es dunkel, und an Dunkelheit war er nicht gewöhnt. An seinem Strand schien ja immer die Sonne. Und so hatte er ein wenig Angst, als er eine der Höhlen betrat, doch bald schon hatte er seine Angst vor lauter Aufregung vergessen. Er vergaß sogar, auf seine Kindheit zu achten, während er durch den Tunnel ging. Zu seiner großen Freude stellte er fest, dass der Tunnel durch den ganzen Berg hindurchführte und vor ihm wieder Sonnenlicht auftauchte. Er trat auf der anderen Seite nach draußen und fand sich inmitten eines scheußlichen öffentlichen Strandes wieder, wo Männer ihren Frauen den Rücken mit Sonnenöl einrieben oder mit der Zeitung auf dem Gesicht schliefen. Es war ein erschreckender Anblick, und so eilte er rasch durch die Höhle zurück. Als er seinen eigenen Strand wieder erreicht hatte, sah er sich um und merkte, dass er irgendwo zwischen den beiden Stränden seine Kindheit verloren hatte.“
„Ist er denn nicht umgekehrt, um sie zu suchen?“
„Nein, natürlich nicht“, erwiderte Anthony verstimmt. „Wenn du es unbedingt wissen willst, er hat in die Höhle hinein nach ihr gerufen, doch er bekam keine Antwort, und da ist er einfach tief betrübt in seine Villa gegangen und hat einen Brandy Alexander getrunken.“
„Und er hat sie nie wiedergefunden“, sagte Courtney bedrückt.
„Nein“, bestätigte Anthony düster. „Sie war für immer verloren.“
„Was für eine traurige Geschichte. Und was ist die Moral?“
„Nun, die Moral liegt doch auf der Hand, Engel, und wenn du so beschränkt bist, das nicht zu sehen, werde ich es dir auch nicht erklären. Hat dir die Geschichte gefallen?“
„Ja“, sagte sie. „Sehr sogar.“
„Fühlst du dich jetzt besser?“
„Ja.“ Sie lächelte ihn an.
„Das dachte ich mir“, sagte er. Er streichelte ihren Mund, fuhr mit dem Finger die Konturen ihrer Lippen nach. „Vielleicht ist Liebe am Morgen ja doch nicht so barbarisch“, meinte er nachdenklich.
„Das könnte sein.“