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Aus: Tim Glencross, Barbaren

(Berlin Verlag 2015) S. 7-10.

 

„Ach, da sind ja unsere schönen jungen Menschen!“

            Buzzy schwankt, zumindest teilweise wegen des Gin Tonic, den sie vorhin in sich hineingeschüttet hat, und lehnt sich einen ebenso himmlischen wie unbehaglichen Moment lang an Marcel, während sie beide – gemeinsam, wenn auch leider nicht als Paar – Sherard Howe, dem Gastgeber, ausweichen. Selbiger pafft an seiner Zigarre und erinnert mit seiner zu weit hochgezogenen Hose, den dünnen Beinen und der Kanonenkugel von Bauch an einen in die Jahre gekommenen Humpty-Dumpty. Das eigentlich Tragische, denkt Buzzy unwillkürlich, sind allerdings die Hängebacken. Ohne diese Fleischlappen jenseits der Unterlippe wäre er ein attraktiver Mann, war das früher bestimmt auch einmal, das kann man aus dem erstaunlich fein geschnittenen Mund und den flinken grauen Raubtieraugen schließen. Reflexhaft fasst sich Buzzy an die eigene Kinnpartie und meint in einem Anflug von Panik dort die Ansätze einer weichlichen Wölbung zu ertasten. Sie muss weniger trinken. Oder ins Fitnessstudio gehen, wie all ihre Freunde neuerdings. Sollte die Sache mit dem Kinn irgendwann so aus dem Ruder laufen wie bei Sherard, bleibt ihr immer noch der Selbstmord.

            Als hätten sie nicht mit einem Haus voller fremder Leute gerechnet, bleiben Buzzy und Marcel in der Diele stehen und sehen sich unsicher nach Sherard um. Er drängt sich mit einem vielleicht mitleidigen, vielleicht auch belustigten Lächeln an ihnen vorbei und brennt Buzzy mit seiner Zigarre dabei fast eine Schneise in die Stirn. Von weiter vorn ertönt sein lautes Kommando: „Mir nach, immer geradeaus.“ Sie durchqueren mehrere Zimmer mit Gästen, die ununterbrochen schnattern und Champagnerflöten schwenken. Im Hause Howe ist es Usus, hat Afua einmal erklärt, in der ersten Stunde Dom Ruinart auszuschenken; danach muss sich jeder (oder zumindest fast jeder) mit dem weniger edlen „R“ de Ruinart zufrieden geben.

Buzzy überlegt, ob sie wohl gerade ganz unauffällig so weit wie möglich vom Epizentrum der Party weggeführt werden – ein Verdacht, der sich erhärtet, als sie in der Küche landen.

„Ich war überzeugt, dass Henry und Afua hier sind. Sie haben eben noch Daphne geholfen.“ Sherards Bassstimme lässt das Heer von Caterern, die Getränke und Horsd’oeuvres auf Tabletts zurechtstellen, synchron aufblicken. Buzzy lächelt einer gestressten Kellnerin zu, einer Uni-Absolventin in ihrem Alter, die sich an ihnen vorbeischiebt, um sich neue Munition in Gestalt gefüllter Tintenfische zu holen. Sherard zieht hochherrschaftlich an seiner Zigarre und scheint nicht zu merken, dass er allen im Weg steht, dann dreht er sich unvermittelt um und stürzt sich wieder ins Getümmel.

Es ist nicht ganz klar, ob Buzzy und Marcel ihm folgen sollen, doch sie folgen ihm. Sherard, der unterdessen dem Kultusminister den Arm gedrückt und Juliet Stevenson auf die Wange geküsst („Ich verlange einen weiteren Tschechow, meine Liebe!“), Tariq Ali mit Mehdi Hasan bekannt gemacht und einen Kellner angewiesen hat, den nicht mehr ganz jungen britischen Nachwuchskünstler, der dort drüben angetrunken über Sir Nicholas Serota schimpft, bei der nächsten Runde auszulassen, wirkt etwas irritiert darüber, die beiden immer noch neben sich zu haben. Buzzy spürt nur zu deutlich, dass er sie erst jetzt richtig mustert. Nicht zum ersten Mal wünscht sie sich, sie wäre so unbefangen wie Marcel, teilte dessen un-britische Fähigkeit, einfach nur dazustehen, ein kaum wahrnehmbares Lächeln auf den Lippen. Als würde Sherard das spüren, wandert sein pfeilschneller Blick über Marcel hinweg und richtet sich auf sie. Sie kommt sich sofort verdächtig vor, wegen ihrer Vorort-Herkunft, die, sei es auch noch so verschüttet, einen Beigeschmack von Torytum hat, und wegen ihrer unklaren Beziehung zu Sherards Sohn. Afua ist zwei Jahre älter als Henry und sozusagen seine Schwester, Marcel ist Afuas Freund. Und Buzzy ist Henrys Freundin-und-doch-nicht-Freundin.

„Nein, sagen Sie nichts, Sie sind ...“

Sie sagt ihm, sie sei Elizabeth. Auf seinen verwirrten Blick hin setzt sie hinzu, dass er sie wohl eher als Buzzy kenne, ein alberner Spitzname aus der Kindheit, den sie, bislang weitgehend vergeblich, abzulegen versuche.

„Buzzy, aber ja. Ich höre von Henry, Sie waren in Südamerika?“

„Stimm, in Argentinien. Ich bin seit etwa einer Woche zurück.“

„Ach, tatsächlich.“ Sherard zieht zweimal kurz hintereinander an seiner Zigarre, und eine dichte Rauchwolke verbirgt seinen schweifenden Blick. Zumindest glaubt er das anscheinend.

Buzzy nimmt ihren ganzen Mut zusammen. „Und jetzt bin ich in der gefürchteten Phase der Arbeitssuche. Aber in der Kunst- und Medienbranche, für die ich mich eigentlich interessiere, sind freie Stellen ja gar nicht leicht zu finden ...“

Sherard legt die Stirn in Falten, und Buzzy wartet klopfenden Herzens darauf, was er wohl sagen wird: Bei Time Out suchen sie eine Filmkritikerin? Bei Dazed & Confused eine Kulturredakteurin? Martin Amis braucht eine persönliche Assistentin? „Ich war vor zwei Monaten in Rio.“

„Rio in Brasilien?“, fragt sie verwirrt.

„Na, bestimmt nicht im Rio Grande, Kindchen.“ Buzzy lächelt erschrocken: Sie ist es nicht gewöhnt, herablassend behandelt zu werden. „Ich war wegen der MoMA in Rio-Ausstellung dort. Wie Sie ja sehen, sammele ich selbst ein wenig.“ Er deutet auf die Wände, die – bis auf ein einzelnes, auffallend kleines Portrait, ein Akt in Öl, der gut von Lucian Freud sein könnte – mit Konzept- und abstrakter Kunst aus den Neunzigern behängt sind: einer von Gary Humes originalgroßen Türen, einem Monoprint von Tracey Emin mit dem Titel Fucking Margate, einem gerahmten gelben Farbklecks von Sandra Blow. „Einen großartigen jungen Fotografen habe ich entdeckt – Romero Ferreira?“ Das scheint eher an Marcel gerichtet zu sein, als gehörte es zu den Dingen, die man als Belgier einfach weiß.

Marcels Reaktion ist geschickt getimt, die Pause gerade so lang, dass der Eindruck entsteht, er wäre mit etlichen aufstrebenden jungen Künstlern aus Rio vertraut, ausgerechnet mit Romero Ferreira aber leider nicht.

„Tja, er wird sicher bald ganz heiß in New York gehandelt. Er ist übrigens heute auch hier, ihr müsst euch unbedingt kennenlernen.“