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Aus: Erica Jong, Angst vorm Sterben

(S. Fischer 2016) S. 18-21.

 

Ich bin unterwegs zur Wohnung meiner Eltern und habe eine Heidenangst vor dem Besuch. In den letzten paar Monaten haben sie extrem abgebaut. Inzwischen verbringen sie beide den ganzen Tag im Bett und werden von Haushaltshilfen und Pflegerinnen umsorgt. Beide tragen Windeln – und das ist noch die gute Variante. Die ganze Wohnung riecht nach Urin, Kot und Medikamenten. Am schlimmsten ist der Kotgeruch. Es ist kein gesunder Kot, wie Babys ihn ausscheiden. Er riecht nach Krankheit. Sein Gestank hängt überall – in den Perserteppichen, den Bildern, den japanischen Wandschirmen. Man kann ihm nicht entkommen – nicht mal im Wohnzimmer.

            Als ich dort bin, merke ich zu meiner großen Erleichterung gleich, dass meine Mutter einen guten Tag hat. Sie ist so lebhaft wie eh und je. In ihrem fliederfarbenen Satin-Nachthemd liegt sie im Bett, lässt die Zehen mit den gelblichen Nägeln wackeln und kräht:

            „Und wen heiratest du als Nächstes?“

            „Ich bin mit Asher verheiratet“, sage ich. „Seit fünfzehn Jahren schon. Das weißt du doch.“

            „Bist du glücklich?“, fragt meine Mutter und sieht mir tief in die Augen.

            Ich sinniere über diese nicht zu beantwortende Frage. „Ja“, sage ich. „Ich bin glücklich.“

            Meine Mutter mustert meine Ringe: den Jugendstilring mit der runden Goldplatte, den Siegelring aus Griechenland mit dem Karneol, den ziselierten viktorianischen Aquamarin aus Italien.

            „Wenn du wieder heiratest, könntest du noch ein paar Ringe abstauben“, sagt sie und lacht lauthals.

            Meine Mutter ist hoch in den Neunzigern, und ihre gut gelaunte Demenz ist mit messerscharfen Einsichten gespickt. Außerdem ist sie sehr viel netter, als sie in meiner Jugend war. Mit dem knittrigen Hals, den schlaffen Oberarmen und den Ballenzehen ist auch eine Liebenswürdigkeit gekommen, die sich mit Anflügen schonungsloser Wahrheitsliebe paart. Manchmal hält sie mich für ihre Schwester oder für ihre Mutter. In ihrem Kopf sind die Toten ebenso lebendig wie die Lebenden. Und doch sieht sie mich mit einer endlosen Liebe an, von der ich wünschte, ich hätte sie als Kind für selbstverständlich halten können. Dann wäre mein ganzes Leben anders verlaufen. Glaube ich zumindest. Tatsächlich hat sie mir aber oft Angst gemacht, als ich noch ein Kind war.

            Menschen sollten nicht so alt werden. Manchmal glaube ich, das Greisenalter meiner Mutter raubt mir Jahre meines Lebens. Ich muss mich zwingen, sie überhaupt anzusehen. Ihre Wangen sind fahl und wie schraffiert von Millionen Fältchen. Sie hat wässrige Augen, buttrige Klümpchen sammeln sich darin. Die Füße sind knotig und verformt, die Zehennägel verhornt und rissig, schartig und senfgelb. Ihr Nachthemd springt immer wieder auf und legt die platten Brüste frei.

            Ich denke daran, wie oft ich in den letzten paar Jahren in Krankenhäusern am Bett meiner Mutter saß. Erbittert bete ich darum, dass sie nicht stirbt. Aber bete ich nicht eigentlich für mich? Bete ich nicht eigentlich darum, nicht selbst als Letzte am Rand des Abgrunds zurückzubleiben? Bete ich nicht eigentlich darum, ihr nicht das Grab schaufeln und selbst hineinfallen zu müssen?

            Wenn man älter wird, erreichen die Todesfälle ringsum erschreckende Ausmaße. Die Menschen in den Todesanzeigen kommen immer näher an das eigene Alter heran. Ältere Freunde und Verwandte sterben, und man bleibt fassungslos zurück. Konkurrentinnen sterben, und man bleibt triumphierend zurück. Liebhaber und Lehrer sterben, und man fühlt sich verlassen. Es wird immer schwieriger, den eigenen Tod zu verdrängen. Hängen wir wirklich so an unseren Eltern oder einfach nur an unserem Status als Kinder, die gegen den Tod immun sind? Ich glaube, dass wir uns zunehmend verzweifelt ans Kind-Sein klammern. Im Krankenhaus begegnet man anderen Kindern – fünfzig-, sechzig-, siebzigjährigen Kindern –, die sich an ihre achtzig-, neunzig- oder hundertjährigen Eltern klammern. Ist diese ganze Klammerei wirklich Liebe? Oder einfach nur das Bedürfnis, sich der eigenen Immunität gegen die Verseuchungen des Malach Hamoves zu versichern – des gefürchteten Todesengels? Insgeheim glauben wir doch alle, wir wären unsterblich. Wir können uns den Verlust des eigenen Bewusstseins nicht vorstellen, deswegen können wir uns auch den Tod beim besten Willen nicht ausmalen. Ich glaubte, ich wäre auf der Suche nach Liebe – dabei war ich in Wahrheit auf der Suche nach Wiedergeburt. Ich wollte die Zeit zurückdrehen und wieder jung werden – und zwar mit all dem Wissen, das ich jetzt habe.

            „Was denkst du?“, fragt meine Mutter.

            „Ach, nichts“, sage ich.

            „Du denkst, dass du niemals so alt werden willst wie ich“, sagt sie. „Ich kenne dich doch.“