Aus: Elizabeth Gilbert, Das Wesen der Dinge und der Liebe
(Bloomsbury 2013) S. 477-479
Sanft glitt das alte Schlachtross von Schiff in den Hafen von Papeete, wo Dutzende unterschiedlichster Seevögel die Masten umschwirrten, so schnell, dass Alma sie kaum zu zählen, geschweige denn zu identifizieren vermochte. Sie wurde samt ihrem Gepäck auf dem geschäftigen, kunterbunten Kai abgeladen. Kapitän Terrence war so freundlich, sich nach einem Wagen umzusehen, der Alma in die Mission an der Matavai-Bucht bringen sollte.
Nach den langen Monaten auf See zitterten Alma die Knie, und die Nerven gingen beinahe mit ihr durch. Ringsum sah sie Menschen jeder Couleur: Matrosen und Seeoffiziere und Kaufleute und einen Mann in Holzpantinen, der wohl ein holländischer Händler sein musste. Sie sah zwei chinesische Perlenhändler mit langen Zöpfen, die ihnen den ganzen Rücken hinunterreichten. Sie sah Eingeborene und Halbeingeborene und Gott weiß was sonst noch alles. Sie sah einen stämmigen Tahitianer in einer Kapitänsjacke aus schwerer Wolle, die er wohl von einem britischen Offizier bekommen haben musste – doch er trug dazu keine Hosen, nur einen Bastrock, und sein Oberkörper unter der Jacke war erschreckend nackt. Sie sah eingeborene Frauen, die auf unterschiedlichste Weise gekleidet waren. Manche der Älteren stellten geradezu schamlos ihre Brüste zur Schau, während die jüngeren Frauen meist lange Gewänder trugen, die an Nachthemden erinnerten, und sich das Haar zu züchtigen Zöpfen flochten. Das mussten wohl die Christinnen sein, dachte Alma. Eine Frau, die fremdartige Früchte verkaufte, hatte sich allem Anschein nach in ein Tischtuch gehüllt und trug dazu europäische Männerschuhe aus Leder, die ihr um einiges zu groß waren. Alma sah auch einen erstaunlich gekleideten Gesellen, der sich eine Art Jacke aus einer europäischen Hose fabriziert hatte, während auf seinem Kopf eine Blätterkrone prangte. Sie fand diesen Anblick höchst ungewöhnlich, doch sonst schien niemand davon Notiz zu nehmen.
Die Eingeborenen hier waren größer als die Menschen, die Alma sonst umgaben. Manche Frauen waren beinahe so stattlich wie Alma selbst. Und die Männer waren noch um einiges stattlicher. Ihre Haut hatte die Farbe polierten Kupfers. Manche der Männer hatten langes Haar und wirkten furchterregend; andere trugen das Haar kurz und wirkten ganz zivilisiert.
Alma sah, wie sich eine jämmerliche Schar Dirnen in eindeutiger Absicht auf die Besatzung der Elliot stürzte, kaum dass die Männer an Land gekommen waren. Die Frauen trugen das Haar offen, es fiel ihnen in glänzenden, schwarzen Wellen bis zur Taille. Von hinten sahen sie alle gleich aus. Von vorn jedoch unterschieden sie sich in Alter und Schönheit. Alma beobachtete, wie die Verhandlungen ihren Lauf nahmen. Sie fragte sich, was so etwas wohl kostete. Sie fragte sich, was genau diese Frauen anboten. Sie fragte sich, wie lang ein solcher Geschäftsverkehr wohl dauerte und wo er vonstattenging. Und sie fragte sich, wohin die Seeleute wohl gingen, wenn sie statt Mädchen Männer kaufen wollten. Am Kai schien nichts dergleichen stattzufinden. Vermutlich suchte man dafür diskretere Orte auf.
Sie sah kleine und größere Kinder in rauen Mengen: bekleidet und unbekleidet, im oder am Wasser, um sie herum oder direkt vor ihren Füßen. Die Kinder bewegten sich wie Schwärme von Fischen oder Vögeln, bei denen jeder Entschluss in sofortigen, kollektiven Gleichklang mündete: Jetzt springen wir! Jetzt rennen wir! Jetzt betteln wir! Jetzt albern wir! Sie sah einen alten Mann, dessen entzündetes Bein auf doppelten Umfang angeschwollen war. Seine Augen waren vor Blindheit weiß. Sie sah winzige Kutschwagen, gezogen von den traurigsten Ponys, die man sich nur denken konnte. Sie sah ein paar kleine, scheckige Hunde, die im Schatten miteinander balgten. Sie sah drei französische Matrosen, die einander untergehakt hielten und aus voller Kehle sangen, bereits betrunken an diesem schönen Morgen. Sie sah die Schilder einer Billardhalle und, erstaunlich genug, einer Druckerei. Das Festland schwankte unter ihren Füßen. Sie schwitzte in der Sonne.
Ein stattlicher schwarzer Hahn erspähte Alma und kam beflissenen Schrittes auf sie zu, als wäre er ein Abgesandter, der sie willkommen heißen sollte. Er wirkte so würdevoll, dass sie kaum überrascht gewesen wäre, eine hochoffizielle Schärpe über seiner Brust zu sehen. Der Hahn blieb direkt vor ihr stehen, wachsam und gebieterisch. Alma rechnete fast damit, dass er das Wort an sie richten oder ein amtliches Schriftstück von ihr verlangen würde. Weil sie nicht wusste, was sie sonst tun sollte, bückte sie sich und streichelte den hochherrschaftlichen Vogel wie einen Hund. Zu ihrer Überraschung ließ er es geschehen. Sie streichelte ihn noch ein Weilchen, und er gackerte voller Zufriedenheit vor sich hin. Schließlich ließ er sich zu ihren Füßen nieder und spreizte in malerischer Ruhepose die Flügel. Er erweckte ganz den Anschein, als wäre die Kontaktaufnahme genau nach seinen Wünschen verlaufen. Und Alma empfand diesen schlichten Austausch als durchaus tröstlich. Die Ruhe und Gelassenheit des Hahns beruhigte auch sie.
So verharrten sie beide – Frau und Vogel – schweigend zusammen am Kai, in Erwartung dessen, was da kommen würde.