Aus: Alexandra Harris, Virginia Woolf
(Steidl 2015) S. 120-125
Von nun an gönnte Virginia Woolf sich fast immer ein vergnügliches Nebenprojekt, um sich bei Laune zu halten. Flush, ihre Biographie über Elizabeth Barrett Brownings Spaniel, sollte die Erholung von Die Wellen werden, und Zwischen den Akten verschaffte ihr die „Ferien“ während der Arbeit an der Biographie über Roger Fry. Wir sollten aber keines dieser Bücher in eine spezielle Kategorie einordnen. Auch in Virginias besonders lyrischen Romanen findet sich einiges an Ferienstimmung. Macht man sich in Zum Leuchtturm auf die Suche nach der Verfasserin von Orlando, springt einem die flotte Gesellschaftskomödie darin ins Auge. Das ist wohl bis heute der am meisten vernachlässigte Aspekt dieses vielbesprochenen Romans: Mr. Ramsay, der die ganze Menschheitsgeschichte zwischen den Blättern der Geranien hervorschimmern sieht, oder Charles Tansley, der fragt, „ob einem seine Krawatte gefalle.“ – „Das nun weiß Gott nicht, sagte Rose.“ i
Virginia Woolf war auf faszinierende und ansteckende Weise geistreich. Ihre Witze mussten schnell sein, wie sich das für Witze gehört, und sie wollte Orlando so schreiben, „wie ich Briefe schreibe, mit äußerster Geschwindigkeit“. ii Von Anfang an ähnelte der Ton des Roman der flirrenden, schillernden Stimme aus ihrer Korrespondenz – vor allem aus den langen, sinnlich-neckischen Briefen an Vita Sackville-West. Jeder einzelne war ein Spiel intimster Lektüre, bei dem die Worte an die Stelle des Körpers traten: „Lies zwischen den Zeilen, Eselchen West; setz Deine Hornbrille auf, und Du wirst die kargen Hügelketten meiner Prosa in voller Blüte sehen wie die Wüste im Frühling: Veilchen und Violen, alle blühen sie, alle sprühen sie.“ iii Das ist die Stimme, die uns mitnimmt auf die wilde Jagd durch Orlando, uns durch ein Dickicht rasch erblühender Details lockt, ungerührt und gelassen, Nebensatz für Nebensatz, Phantasien weiterspinnt und sich so rasch voranbewegt, dass uns gar keine Zeit zum Protestieren bleibt, bis wir schließlich ans Ende eines Absatzes gelangen, wo uns drei kokette Pünktchen erwarten ...
Die Leser ihrer Briefe dürfte das Komödiantische an Orlando kaum überraschen, und auch thematisch ist der Text eng mit Virginia Woolfs anderen Werken verbunden. In einem Ton, der „halb lachend, halb ernst“ iv ist, stellt er die ewig gleichen Fragen. Wie groß ist der Unterschied zwischen Männern und Frauen? Haben unsere Vorfahren das Leben genauso erlebt wie wir? Worin besteht das Erbe unserer familiären Vergangenheit? Die letzte Frage verbindet das Projekt einer Familiengeschichte in Zum Leuchtturm mit ihren Träumereien über Vita Sackville-Wests Vorfahren in Orlando. Beide Bücher beschäftigen sich mit Vermächtnissen, mit der Frage, wie viel von Anfang an festgelegt ist und inwiefern wir frei sind, uns selbst zu erfinden. Orlando ist ihr eigener Vorfahr, aber gleichzeitig erschafft sie sich mit jedem Jahrhundert, das vergeht, wieder neu.
Es spricht für Virginia Woolfs Selbstvertrauen, dass Orlando nicht nur mit ihren früheren Romanen korrespondiert, sondern sich auch ganz unverhohlen über ihren berühmten Stil lustig macht. So enthält Orlando beispielsweise eine Parodie auf den Zwischenteil „Zeit vergeht“ aus Zum Leuchtturm, und in gewisser Weise ist das ganze Buch eine ironische Version des „Verrinnens von Zeit“, über das sie, am Beispiel ihrer Freunde, hatte schreiben wollen. Virginia parodiert sich auch noch auf andere Weise, sie karikiert sich selbst ebenso sehr wie Vita. Als der große Dichter Nick Greene Orlando besucht, gibt er bei Tisch eine armselige Figur ab, redet nur über seine Krankheiten, beschwört mit schlechtem französischen Akzent literarische Größe herauf und verdammt sämtliche anderen Schriftsteller seiner Generation in Bausch und Bogen, wobei es sich wohlgemerkt um Shakespeare, Marlowe und John Donne handelt. Virginia Woolf, die selber nicht besonders gut Französisch sprach, war sich ihrer geringschätzigen Haltung gegenüber Joyce durchaus bewusst. Und ihr war auch klar, dass sie Vitas Dichtkunst nicht genügend gewürdigt hatte: Dem armen Orlando gelingt es nicht, auch nur einmal das Wort auf sein eigenes Werk zu bringen, trotzdem ist er unerklärlicherweise so bezaubert, dass er einfach immer weiter zuhört, bis Greene das Landleben satt hat und sich wieder nach London begibt, wo er hingehört – und wo er umgehend die Feder in den Eierbecher taucht, der ihm als Tintenfass dient, und eine Satire auf seinen leidgeprüften adligen Gastgeber verfasst. v
Obwohl Virginia in Orlando nicht die Umrisse aller ihrer Freunde skizziertevi, wie sie es ursprünglich geplant hatte – dieses Vorhaben floss dann in Die Wellen ein –, war das Buch doch von ihrer langen Freundschaft mit Lytton Strachey geprägt. Seit zwanzig Jahren setzten sie sich voreinander in Szene, versuchten, sich gegenseitig auszustechen, und wetteiferten darum, wer auf erotischem Gebiet mehr schockieren konnte. Eine Phantasterei über einen Geschlechtswechsel hatte gute Chancen, mit Stracheys berüchtigtem Bekenntnis zum „Sodomismus“ mitzuhalten, und eine Biographie über fünfhundert Jahre hinweg konnte womöglich auch noch eine so kontroverse Form der Lebensbeschreibung in den Schatten stellen, wie sie Strachey mit seinen Eminent Victorians gelungen war: Ein oder zwei vielsagende Anektdoten ersetzten ganze Bände voll gewissenhaft zusammengetragener Einzelheiten. Strachey war der Ansicht, Virginia widme sich in ihren Romanen den falschen Themen und solle sich doch eher an etwas wie Tristram Shandy versuchen, und genau das tat sie mit Orlando. Sie hatte Sternes komisches Epos 1926 erneut gelesen und borgte sich seine Vorliebe für fiktive Vorwörter und Indizes, quälende Lücken, Doppeldeutigkeiten und Schriftstücke, die mitten im entscheidenden Satz plötzlich angesengt sind. Tristram tut sich schwer damit, auf die Welt zu kommen; Orlando seinerseits macht keine Anstalten zu sterben.
i Zum Leuchtturm, S. 14.
ii Tagebücher, Bd. 3, 14. März 1927.
iii VW an Vita Sackville-West, 15. März 1927.
iv Tagebücher, Bd. 3, 20. Dezember 1927.
v Orlando, S. 75-85.
vi Tagebücher, Bd. 3, 20. September 1927.